2022-11-13: HIV-KONTROVERS in Köln

HIV-KONTROVERS 2022 in KölnKnapp drei Jahre seit der letzten HIV-KONTROVERS-Tagung, die gemeinsam von Deutscher AIDS-Gesellschaft (DAIG) und Aidshilfe NRW ausgerichtet wird, fand diese gestern wieder in Präsenz statt. Es war ein sehr lebendiger Kongress mit vielen lebhaften Diskussionen, auch wenn im Verhältnis zum letzten Mal etwas weniger Ärzt*innen, Mitarbeiter*innen aus Aidshilfe, Drogenselbsthilfe, Öffentlichem Gesundheitsdienst und Verwaltung sowie interessierte Menschen mit HIV nach Köln kamen.

Zu Beginn verliehen sowohl der DAIG-Vorsitzende Stefan Esser als auch der Aidshilfe-Landesvorsitzende Arne Kayser ihrer Freude Ausdruck, dass dieses bewährte Format wieder stattfinden konnte und eine so vielfältige Gruppe an Teilnehmer*innen ins KOMED gekommen seien. Esser betonte, dass auf dieser Tagung medizinische und sozialpolitische Themen im Mittelpunkt stehen, das Besondere sei, dass diese auch von zwei Disputant*innen zugespitzt vorgestellt und kontrovers diskutiert werden. "Gerade in Zeiten von Shitstorms und Hatespeech in den sozialen Medien sei die Kultur der Kontroverse leider in den Hintergrund getreten. Daher ist HIV-KONTROVERS das ideale Format, divergierende Meinungen auszutauschen und daraus Gewinn zu ziehen", so Esser.

Kayser wies darauf hin, dass eine solche von Sponsor*innen ermöglichte Veranstaltung darüber hinwegtäusche, dass es den Aidshilfen in NRW finanziell nicht gutgehe. "Nicht nur der Fortbestand wichtiger Angebote, sondern auch die Existenz einzelner lokaler Aidshilfen im Land stehen akut auf dem Spiel. Das bedeutet einen Einbruch bestehender effizienter Strukturen und die Reduzierung von zielgruppenspezifischer HIV- und Aidsprävention." Kayser rief die Anwesenden, insbesondre die Ärzt*innen, dazu auf, sich solidarisch zu zeigen und in ihren Zusammenhängen für den Fortbestand der Aidshilfestruktur einzusetzen.

Im Anschluss diskutierten die Teilnehmer*innen in sieben Kontroversen über aktuelle Fragestellungen der Aidsarbeit. Unter wissenschaftlicher Leitung von Nazifa Qurishi aus Köln erfolgten Diskussionen unter anderem über die HIV-Therapie und ihre Nebenwirkungen, über Hepatitis C-Diagnostik und die Präexpositionsprophylaxe von sexuell übertragbaren Infektionen.

In einer Kontroverse zum Thema: "Gesund leben: Angebot oder Verpflichtung?" standen sich Stefan Nagel vom AMEOS Reha Klinikum in Ratzeburg und Stefan Esser, der am Unversitätsklinikum Essen arbeitet, gegenüber. In seiner zugespitzten These plädierte Nagel für eine normfreie Gesundheitsprophylaxe. "Neben der Gesundheit gehört auch der Lustfaktor zu unserem Leben, wenn wir normabweichendes Verhalten akzeptieren, bedeute das nicht zwingend unsolidarisches Verhalten", so Nagel. Eine sinnvolle und wirksame gesundheitliche Prophylaxe könne nur erfolgreich sein, wenn sowohl Verhältnis- wie Verhaltensprävention zum Tragen kommen. Scham und Schuld aufgrund des Verstoßes gegen vermeintliche Normen verhinderten Prävention. "Existentiell betrachtet gibt es ohnehin kein gesundes Leben, sondern nur Leben."

Auch Stefan Esser verwies auf das WHO-Prinzip, dass Gesundheit nicht allein körperliches, sondern auch geistiges und soziales Wohlbefinden umfasse. So gehöre möglicherweise gesundheitsschädliches Verhalten für viele zum alltäglichen Leben, wenn man an Alkoholkonsum, Rauchen, oder schnelles Autofahren denkt. Doch wo höre die individuelle Freiheit auf? "Wieviel Solidarität für die Allgemeinheit, die das Ganze ja finanziert, dürfen oder müssen wir Ärzt*innen einfordern? Steht das Individuum nicht in direkter Verantwortung nicht nur sich selbst, sondern auch anderen gegenüber?" Esser bezweifelt, ob Gesetze, Verbote und Zwang zum Erreichen eines gesünderen Lebens zielführend sind, jedoch fordert er Verantwortung der Einzelnen für sich selbst wie für die Allgemeinheit ein. "Das Finalprinzip, dass jeder Mensch Anspruch auf die bestmögliche Behandlung hat, darf nicht aufgegeben werden. Wir sind aber gezwungen, zu schauen wie sehr wir es in Anspruch nehmen, insbesondere wie das alles bezahlt werden kann", so Esser.

Nagel plädierte, nicht danach zu fragen, ob jemand die Behandlung seiner selbstverschuldeten Erkrankung selbst zahlen soll, sondern, warum er es nicht hinbekommen hat, gesund zu bleiben. Sandra Dybowski vom NRW-Gesundheitsministerium fragte, wie sich die Menschen eine Solidargesellschaft vorstellen. Die letzten jahre haben gezeigt, dass sich Menschen ernsthaft damit auseinandersetzten, was sie tun, wenn sie wissen, dass sie ansteckend sind. Der Staat müsse mit Vorschriften äußerst behutsam umgehen. Arne Kayser gab zu bedenken, wie schnell in der Öffentlichkeit Normen und Moral eingefordert werde, wenn es um andere geht. "Der Umgang mit MPX hat doch gezeigt, wie schuld- und schambehaftet Sexualität immer noch sei. Dass die Infektionszahlen dermaßen schnell gesunken sind, verdanken wir aber guter Kommunikation und freiwilliger Verhaltensveränderung in der Community. Das zeigt doch, dass wir Verantwortung übernehmen."

Susanne Kottsieper, Aktivistin der Drogenselbsthilfe, nahm für sich in Anspruch, trotz Drogenkonsums Verantwortung zu übernehmen. "Ich trete für selbstbestimmten Konsum eiun, aber unter Minimierung aller Risiken. Ich hänge am Leben und ich möchte, dass es mir gut geht." Lina Kabangu, Mitarbeiterin bei MiSSA, dem Netzwerk von und für Menschen aus Subsahara Afrika, die sich mit Förderung von Gesundheit und HIV-Prävention beschäftigen, beklagt, dass bei dieser Diskussion ein gewisser Teil von Patient*innen gar nicht im Blick sind. "Vielen fehlt der komplette Zugang zum Gesundheitssystem, etwa Menschen ohne Versicherung, geschweige, dass auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird. Natürlich werden bei uns schwarzen Menschen nach wie vor diskriminiert, ob sie überhaupt Termine bekommen oder bei ihnen ungefragt ein HIV-Test gemacht wird."

Eine weitere vielbeachtete Kontroverse wurde über die Legalisierung von Cannabis geführt. Der Kölner Arzt Konrad Isernhagen erläuterte, dass die Prohibition den globalen Kampf gegen Drogen nicht beenden konnte, dass ein Verbot nicht verhältnismäßig sei und es bei einer Legalisierung keine Evidenz für negative Auswirkungen auf das Konsumverhalten und eine höhere Gefährdung von Jugendlichen gebe. "Kriminalisierung ist für eine effektive Prävention kontraproduktiv, Menschen mit problematischem Cannabiskonsum gehören in Therapie, nicht ins Gefängnis", so Isernhagen.

Jörn Patzak, Anstaltsleiter und Jurist aus Wittlich, hielt dagegen, dass die geplante Legalisierung den Schwarzmarkt nicht verdrängen werde, so könnten die Ebene kleiner und mittlerer Händler nicht mehr verfolgt werden. Zudem werde der Drogentourismus gefördert. "Den größten Fehler sehe ich im unzureichenden Jugendschutz. Mit der bisherigen Regelung können Jugendlichen Hilfsprogrammen zugeführt werden, das entfällt mit der Legalisierung ganz", so Patzak.

Einig waren sich beide Diskutanten darüber, dass das Abgabeverbot von Cannabis durch Erwachsenen an Jugendliche weiter geahndet werden und ein Werbeverbot erfolgen müsse. Beide sahen es medizinisch als sinnvoll, eine Freigabe für Erwachsene ab 25 Jahre umzusetzen, dies sei juristisch leider nicht möglich. Außerdem befürworteten beide Drug-checking-Angebote.

In einer abschließenden Unterhausdebatte hatten alle Teilnehmer*innen der Veranstaltung die Gelegenheit, sich zu Fragen aller Kontroversen zu verhalten und Stellung zu beziehen. Viele, die zu HIV-KONTROVERS gekommen sind, äußerten sich abschließend hochzufrieden mit den spannenden und kurzweiligen Diskussionen. "Ich fand es gut, dass man zu wichtigen Fragestellungen einmal in Ruhe alle Pros und Contras anhören und darüber nachdenken konnte", so eine Teilnehmerin. "Ich hatte von der Langzeit-Therapie, bei der statt einer Tablette am Tag Injektionen alle paar Monate verabreicht werden, gehört. Nach der Diskussion wurde mir klar, dass sie nicht so einfach ist, wie es sich zunächst anhörte", so ein anderer Teilnehmer.

Die Kontroversen werden in den kommenden Wochen dokumentiert und Anfang 2023 auf hiv-kontrovers.de abrufbar sein.

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